Der schleichende Tod der Insekten

Johannes Steidle ist tief besorgt: „Bei unseren Untersuchungen im Freiland haben wir in diesem Jahr bisher nur beängstigend wenige Insekten gefunden“, berichtet der Biologe, der am Institut für Zoologie der Universität Hohenheim das Fachgebiet Tierökologie leitet. Heuschrecken beispielsweise haben die Hohenheimer Ökologen bisher kaum entdeckt. Aber auch andere Insekten machen sich ungewöhnlich rar: „Wenn ich durch den Hohenheimer Park gehe, komme ich mir vor wie auf einer nächtlich leeren Autobahn: Wo sind die Insekten?“, fragt sich Steidle.

Zum Teil mag das am Wetter liegen. „Witterungsbedingt ist durch die vielen Niederschläge und die kühlen Temperaturen im Frühjahr bei vielen Insekten – und vor allem bei Heuschrecken – die Entwicklung um zwei bis vier Wochen oder noch länger verzögert“, bestätigt der Heuschreckenexperte Peter Detzel von der Stuttgarter Gruppe für ökologische Gutachten. Aber allein auf das Wetter will der Ökologe die aktuelle Entwicklung keineswegs schieben: Auf unseren „klinisch reinen“ landwirtschaftlichen Nutzflächen hätten Bienen, Schmetterlinge und andere Insekten ja kaum eine Überlebenschance, meint er.

Die beiden Stuttgarter Fachleute bestätigen damit die Beobachtungen, die viele Naturliebhaber in den vergangenen Jahren immer öfter gemacht haben – und das unabhängig von jährlichen Witterungsschwankungen: Es gibt immer weniger Insekten. Für jedermann offenkundig wird dieser Trend bei einer Überlandfahrt mit dem Auto: Heute kleben weit weniger Insekten an der Windschutzscheibe als noch vor wenigen Jahren. Auch kann man sich nur wehmütig daran erinnern, wie viele Tiere früher in der Nacht um eine Laterne geflattert sind. Die für viele Insekten ungünstige Witterung in diesem Frühjahr könnte diesen Trend noch verstärkt haben. Für Johannes Steidle ist dies allerdings wie ein Blick in die Zukunft: „In zehn Jahren wird es wohl auch bei besten klimatischen Voraussetzungen nur noch so wenige Insekten geben wie in diesem Jahr.“

Diese zunehmend Besorgnis erregende Entwicklung lässt sich auch mit Zahlen belegen. Das wurde bei dem öffentlichen Fachgespräch „Ursachen und Auswirkungen des Biodiversitätsverlustes bei Insekten“ deutlich, das der Umweltausschuss des Deutschen Bundestages im vergangenen Januar veranstaltete. Dabei berichtete Josef Tumbrinck vom Naturschutzbund Nabu über die nach seinen Worten „ganz dramatische Entwicklung“ in Nordrhein-Westfalen. Dort wurden über 30 Jahre hinweg in immer derselben Art und Weise bestimmte Fallen aufgestellt und die Art sowie die Masse der damit eingesammelten fliegenden Insekten bestimmt. Sein Fazit für ein Naturschutzgebiet bei Krefeld: „Das ganze Jahr über fliegt dort fast nichts mehr.“ Und im Wahnbachtal bei Bonn haben die Ökologen an sechs Standorten von 1989 bis 2014 die Schmetterlinge untersucht. In dieser Zeit ging die Artenzahl um 22 Prozent und die Individuenzahl um 56 Prozent zurück. Bei den Schwebfliegen war der Rückgang noch deutlich dramatischer: 27 Prozent der Arten und 84 Prozent der Individuen.

Die Gründe für den schleichenden Tod der Insekten sind vielfältig. Immer wieder wird als mögliche Ursache die Klimaerwärmung diskutiert. Doch egal ob warme oder kalte Jahre, die Arten- und Individuenzahlen seien „immer im Keller“, wie es Tumbrinck formuliert. Viel bedeutender ist dagegen die Zerstörung von Lebensräumen. Dies trifft vor allem diejenigen Arten, die an ihre Umwelt hohe Ansprüche stellen, beispielsweise an Futterpflanzen oder Geländestrukturen. Damit hängt zusammen, dass viele dieser Lebensräume immer kleiner werden und inzwischen wie Inseln in einer intensiv genutzten – und damit für viele Insekten weitgehend nutzlosen – Agrarlandschaft liegen.

Nicht weniger Sorgen bereitet den Ökologen die zunehmende Verbreitung von Giften in der Umwelt. Hier stehen die Pflanzenschutzmittel an erster Stelle, wobei vor allem die Stoffklasse der Neonicotinoide, kurz Neonics, eine wichtige Rolle spielen dürfte. So wurde bei der Bundestagsanhörung erneut klar, dass der Rückgang von Arten und Individuen bei vielen Insektengruppen mit dem zunehmenden Gebrauch von Agrargiften zusammenfällt. Das hat – neben den ethischen und naturschützerischen Aspekten – auch handfeste wirtschaftliche Folgen: Die Zahl der Pflanzen-Bestäuber geht dramatisch zurück.

All dies hat auch die 140 Teilnehmer der „Konferenz der Arten“, die Anfang Juli von der Leibniz-Gemeinschaft in Berlin organisiert worden war, zu einer aufrüttelnden Abschlusserklärung veranlasst. Dort heißt es: „Massives Artensterben sogar in ausgewiesenen Schutzgebieten weist auf die Fernwirkung von Insektiziden, Schadstoffen und Landnutzungsänderungen hin.“
Quelle: Stuttgarter Zeitung, 15.07.16
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