Die Fortsetzung des stummen Frühlings

Die Biologin Rachel Carson begann ihr berühmt gewordenes Buch einst mit einem Zukunftsmärchen. Sie schildert eine Stadt inmitten blühender Obstgärten. Entlang der Straßen entzücken Schneeballsträucher, hohe Farne und wilde Blumen das Auge. Die Vogelwelt ist artenreich, in den Bächen tummeln sich Fische. Doch dann rafft eine seltsame, schleichende Seuche Mensch und Tier dahin. Bäume und Blüten verkümmern. Die wenigen, noch übrig gebliebenen Vögel zittern und können nicht mehr singen. Es sei ein „stummer Frühling“, gewesen, schreibt sie in ihrem gleichnamigen, 1962 erschienenen Buch.

Die Forscherin zeigt darin auf, wie massiv Pestizide das ökologische Gleichgewicht durcheinanderbringen. Ihr Hauptaugenmerk liegt auf den gefährlichen Folgen des – ab den 1970er-Jahren in einzelnen europäischen Ländern und 1992 dann auch in Österreich verbotenen – Insektizids DDT. Die Lektüre des für die damals aufkeimende Ökobewegung prägenden Werks erschütterte auch den Schüler Johann Zaller. So sehr, dass er beschloss, nach seiner HTL-Ausbildung als Elektrotechniker Biologie und Ökologie zu studieren und sich schließlich an der Wiener Boku mit den – wenig erforschten – Nebeneffekten von Pestiziden zu befassen.

Nun legt er mit „Unser täglich Gift“ selbst ein allgemein verständlich formuliertes Sachbuch vor, in dem er einen umfassenden Überblick über Pestizide als „unterschätzte Gefahr“ bietet. Er wolle damit einer emotional geführten Debatte auf Fakten basierende Informationen entgegenhalten, sagt er. Allein in Deutschland und Österreich sind rund 1200 Pestizidprodukte auf dem Markt. Viele wirken systemisch, haften also nicht nur außen an der Pflanze, sondern verteilen sich bis in die Früchte – mit unklaren Folgen für Mensch und Umwelt, denn die Nebeneffekte seien nur ungenügend untersucht.

„Die Leute glauben, die Behörden führen die Studien zur Zulassung durch, aber sie nicken sie nur ab. Die Studien kommen von den Herstellern und werden geheimgehalten.“ Außerdem würden nur die Wirkstoffe, nicht die – ebenfalls toxischen – beigemengten Stoffe untersucht. Diese können aber mitunter bis zu 60 Prozent eines Produkts ausmachen.

Zaller will daher mit seinem Team in einem gerade startenden Projekt untersuchen, wie sich einerseits der reine Glyphosatwirkstoff und andererseits drei unterschiedliche verarbeitete Produkte auf Regenwürmer auswirken. So lasse sich sagen, was giftiger ist. Bereits beobachtet haben die Wissenschaftler, wie von landwirtschaftlichen Flächen in benachbarte Laichgewässer ausgewaschenes Glyphosat auf Erdkröten wirkt. Das auch im Buch vorgestellte Resultat: Die Schwänze der Kaulquappen waren verkrüppelt. Außerdem werde die eigentlich als Rohrreiniger entwickelte chemische Verbindung, wenig realitätsnah, nur bei einer normierten Temperatur von 20 Grad Celsius getestet. „Wir haben allerdings herausgefunden, dass Glyphosat bei unterschiedlichen Temperaturen unterschiedlich wirkt“, schildert Zaller.

Die Bandbreite unterschiedlicher Pestizide ist freilich groß. Herbizide etwa sollen Unkraut vernichten, Akarizide Milben und Spinnentiere, Insektizide sonstiges Ungeziefer, Molluskizide Schnecken. In der Praxis werden diese in viel zu großer Menge und viel zu oft präventiv eingesetzt, kreidet Zaller an. Er sei erschrocken, als er feststellte, dass diese bereits in Arktis und Antarktis oder in Gletscherseen zu finden seien.

Was ihn am meisten schockierte? Dass das Nervenleiden Parkinson bei französischen Weinbauern als Folge ständiger Pestizidbelastung eine anerkannte Berufskrankheit sei, sagt er. Bei Pestiziden mache nicht erst die Dosis das Gift. „Der alte Spruch von Paracelsus gilt hier nicht, weil Langzeiteffekte ignoriert werden.“ Außerdem sind viele Pestizide hormonell wirksam – und dazu reichen geringe Mengen. Getestet werde das meist nur bei Erwachsenen, nicht aber bei Kindern. „Wer hier forscht, wird schnell in die Ecke des Aktivisten oder Fortschrittsverhinderers gedrängt“, erzählt Zaller.

Er ist überzeugt, dass sich die meisten Pestizide ersetzen lassen. In einem noch laufenden Forschungsprojekt hat er etwa getestet, was sich statt Schneckenkorn – das auch Regenwürmern schadet – nutzen lässt: Man könnte einen parasitischen Fadenwurm einsetzen, der die Schnecken befällt und tötet. Mitunter helfen aber auch alte Hausrezepte wie Seifenlauge gegen Blattläuse, und ebenso lasse sich Unkraut im Weingarten wieder mit Werkzeugen entfernen.

Die Nachfrage nach Pestiziden ist seit 1950 allerdings um das Fünfzigfache gestiegen, berichtet Zaller. Fatal, denn: „Wenn jemand raucht, kann man hinausgehen. Pestiziden kann man nicht ausweichen.“ Der stumme Frühling dürfte also seine Fortsetzung finden.

Quelle: "Die Presse", 17.03.2018
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