Henk Tennekes blickte kürzlich auf die eindrücklichen Vogelmengen im niederländischen Wattenmeer. Als er durch die Kartoffelfelder Groningens nach Hause fuhr, erschrak er: „Die Gefahr ist groß, dass all die Vögel, die ich gesehen hatte, verschwinden, weil in den Kartoffelfeldern Neonikotinoide eingesetzt werden.“ Wie könnte man die Neonikotinoide charakterisieren? Ein Kollege nannte sie die apokalyptischen Reiter. Weil sie die Nahrungskette am Anfang brechen. Wenn die Insekten verschwinden, bricht das Ökosystem zusammen. Wir sind aus meiner Sicht auf dem besten Wege, dies herbei zu führen.“
Er sei ganz zufällig in das Thema geraten, als er sich für das Bienensterben interessierte, sagt der niederländische Toxikologe Dr. Henk Tennekes (61). Er habe immer gedacht, wenn etwas wissenschaftlich nachgewiesen ist, würden die richtigen Entscheidungen getroffen. So publizierte er seine Erkenntnisse zunächst in einer wissenschaftlichen Zeitschrift. Weil die Reaktion ausblieb, studierte er die Abnahme vieler Vogelarten und schrieb ein Buch über einen möglichen Zusammenhang mit neuartigen Insektiziden. Darin beschreibt er auch typische Vogelarten des Wattenmeeres.
„Die Bayer AG hat 1985 ein synthetisches Nikotinoid entwickelt, mit dem die Stoffgruppe der Neonikotinoide geschaffen wurde. 1991 gab es erste Feldversuche. Wegen ihrer hohen Toxizität bei schädlichen Fraß- und Sauginsekten erfreuen sie sich bei Landwirten zunehmender Beliebtheit. Weltweit werden sie an rund 140 Nutzpflanzen in über 100 Ländern eingesetzt: im Mais- und Kartoffelanbau, bei Zuckerrüben, im Obstbau, bei der Zucht von Blumenzwiebeln, in Gewächshäusern und Schrebergärten, auf Sport- und Golfplätzen.
Als das erste Neonikotinoid, Imidacloprid, 1995 bei Sonnenblumen in Frankreich verwendet wurde – dort wird Honig hauptsächlich mit Sonnenblumen gewonnen – stellten die Imker fest, dass die Bienen sich merkwürdig verhielten. Einige Völker kehrten beispielsweise nicht zum Stock zurück. Die französische Regierung setzte eine Kommission ein, die 2003 zu dem Schluss kam, dass es einen Zusammenhang zwischen der Imidacloprid-Beizung von Sonnenblumen- und Maissaatgut und dem Bienensterben gab. In Deutschland hatte Clothianidin noch drastischere Effekte: Bei der Aussaat von Mais, der mit diesem Neonikotinoid gebeizt war, wurden 2008 durch den Abrieb des Beizmittels 11.000 Bienenvölker in Mitleidenschaft gezogen. Die Anwendung von Imidacloprid und Clothianidin als Beizmittel bei Mais und Sonnenblumen wurde deshalb in Deutschland und Frankreich verboten. Bei anderen Nutzpflanzen und in anderen Ländern sind Neonikotinoide hingegen unverändert zugelassen.
Klassische Insektizide wie die Phosphorsäureester wirken bei Insekten als Nervengifte, indem sie das Enzym Acetylcholinesterase hemmen und so die Reizübertragung zwischen den Nervenzellen verändern. Werden die Enzyme ersetzt, funktioniert die Reizübertragung wieder. Neonikotinoide binden sich dagegen direkt und nahezu irreversibel an die postsynaptischen nikotinischen Acetylcholinrezeptoren der Nervenzellen des zentralen Nervensystems. Da die Entwicklung der Nervenzellen mit der Geburt oder dem Schlüpfen weitgehend abgeschlossen ist, gibt es für sie keinen Reparaturmechanismus. Im Gegenteil: Kleinste Giftmengen blockieren weitere Rezeptoren, ihre Wirkung summiert sich.
Ich habe 2009 ganz zufällig - weil ich aus der Krebsforschung komme - erkannt, dass die Dosis-Wirkungs-Beziehungen von Neonikotinoiden und von krebserregenden Substanzen gleichartig sind. Damit wurde klar, dass die langfristigen Wirkungen von Neonikotinoiden unterschätzt wurden. Neonikotinoide sind akut etwa 1.000 bis 10.000-fach giftiger als DDT, bei der längerfristigen Toxizität aber 100.000 bis 1.000.000-fach giftiger. Wegen der anderen Wirkungsmechanismen sind Neonikotinoide viel gefährlicher als klassische Insektizide.
DDT reicherte sich in der Nahrungskette an. Greifvögel hatten Probleme, weil ihre Eier immer dünnschaliger wurden. Die Wirkung trat also am Ende der Nahrungskette auf. Neonikotinoide dezimieren dagegen die Insekten, also Organismen am Anfang der Nahrungskette. Sie bestäuben keine Pflanzen mehr und dienen anderen Arten auch nicht als Nahrung. Wenn man sich vor Augen führt, wie viele Arten von Insekten abhängig sind – der Mensch eingeschlossen – wird klar, dass hier etwas sehr Gravierendes stattfindet. In einer bienenlosen Welt gäbe es bei McDonald's einen Big Mac ohne Fleisch, Salat, Käse, Gürkchen, Zwiebeln und Ketchup.
In den vergangenen Jahren gab es ein Bienensterben von einer nie gekannten Dimension und auch die Schmetterlinge befinden sich auf einem Tiefstand. Über den Rückgang anderer Insektengruppen wissen wir wenig.
Die Vögel sind eine andere Möglichkeit zu schauen, ob es eine Wirkung auf die Nahrungskette gibt. Ich habe mir viele Vogelarten angeschaut, die stark zurück gehen und sie alle sind von Insekten abhängig. In allen Lebensräumen ist dies zu beobachten, im Wald und auf der Heide, bei Wiesen- und Sumpfvögeln. An der niederländischen Küste gehen früher teilweise häufige Brutvögel wie Austernfischer (Haematopus ostralegus), Kiebitz (Vanellus vanellus), Rotschenkel (Tringa totanus), Uferschnepfe (Limosa limosa), Großer Brachvogel (Numenius arquata), Säbelschnäbler (Recurvirostra avosetta) und Seeregenpfeifer (Charadrius alexandrinus) seit 2000 rapide zurück und ihr Bruterfolg sinkt. Der Austernfischer könnte in Holland 2020 ausgestorben sein, wenn der Trend sich fortsetzt. Auch der Rückgang der Uferschnepfe ist verheerend, sogar in Schutzgebieten.
Auch Veränderungen in der Landwirtschaft oder eine große Zahl von Nesträubern werden zum Rückgang beitragen. Aber all diese Arten ernähren sich zumindest als Küken von Insekten und ich denke, dass dies entscheidend ist. In küstennahen Feuchtgebieten wurde eine rapide Abnahme der Insekten selbst festgestellt – und wir haben dort nachweislich hohe Konzentrationen der wasserlöslichen und kaum abbaubaren Neonikotinoide, die sich über die Oberflächenwasser verteilen. Ich vermute, dass dies in Deutschland ähnlich ist.
Man kann davon ausgehen, dass der ganze Planet mit Neonikotinoiden verunreinigt wird. Insektizide wie DDT, Dieldrin und zehn andere 2001 weltweit verbotene organische Chlorverbindungen wurden als das Dreckige Dutzend bezeichnet. Wie könnte man die Neonikotinoide charakterisieren? Ein Kollege nannte sie die apokalyptischen Reiter. Weil sie die Nahrungskette am Anfang brechen. Denn wenn die Insekten verschwinden, verschwinden wir auch. Dann bricht das Ökosystem zusammen. Wir sind aus meiner Sicht auf dem besten Wege, dies herbei zu führen.“
Das Ende der Artenvielfalt
Neuartige Pestizide töten Insekten und Vögel - der Untertitel beschreibt genau den Inhalt dieses Buches. Der niederländische Toxikologe Henk Tennekes beschreibt darin auf 72 Seiten, was er im Gespräch mit der Redaktion der Nationalpark Nachrichten oben zusammengefasst hat. Eine ausführliche Besprechung des Buches hat Susan Haffmans in der Zeitschrift Kritische Ökologie veröffentlicht. Neben dem Inhalt ist auch die Form des Buches erstaunlich: Es ist schön. Das liegt an der großzügigen Gestaltung des Buches und den kräftigen, ganzseitigen Landschaftsbildern des Malers Ami-Bernard Zillweger, die einem nach jedem Kapitel helfen, mal durchzuatmen.
Henk Tennekes (2012): Das Ende der Artenvielfalt. Hrsg.: BUND, 72 Seiten, 29.95 €. Das Buch ist nur beim Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland zu beziehen, der das Buch aus dem Englischen ins Deutsche übertragen hat.
Quellen: Newsletter, Nationalpark Wattenmeer, Juni 2012
http://www.nationalpark-wattenmeer.de/sh/service/newsletter/1718_juni-2…
http://www.nationalpark-wattenmeer.de/node/1729
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