Und wenn es plötzlich keine Insekten mehr gäbe? Die Entomologen stellen sich die Frage immer wieder, und wenn auch die Prognosen variieren, so herrscht in einem Punkt Einigkeit: Das menschliche Leben, wie wir es kennen, würde wahrscheinlich enden. Der namhafte Entomologe Edward O. Wilson, ausgezeichnet mit zwei Pulitzerpreisen und der National Medal of Science, gibt den Menschen nach dem hypothetischen Aussterben aller Wirbellosen (von denen Insekten die Mehrzahl stellen) noch zehn Jahre. Der Science-fiction-Autor Charles Pellegrino dagegen, der in seinem Roman «Dust» die katastrophalen Folgen eines globalen, programmierten Aussterbens aller Insekten beschreibt, lässt es weniger als sechs Monate dauern, bis die Menschheit auf eine Hand voll bedauernswerte, in alle Welt zerstreute Überlebende geschrumpft ist.
Wie schnell auch immer, ein Verschwinden der Insekten hätte auf jeden Fall schreckliche Folgen. Insekten sind für uns weniger wegen ihrer Produkte wertvoll als vielmehr wegen der Dienste, die sie leisten. Honig, Wachs, Schellack, Gelée royale und Seide sind wunderbare Dinge, aber lebenswichtig sind sie nicht. Wirklich wichtig für den Menschen ist aber der augenfälligste Dienst, den uns die Insekten - wenn auch unbewusst - erweisen: die Bestäubung. Diese Tätigkeit steht in den obligatorischen Kapiteln entomologischer Lehrbücher, welche die positiven Seiten des Lebens mit Insekten auflisten, an erster Stelle.
Weil sich die meisten Pflanzen nicht frei bewegen können, greifen sie auf tierische Helfer zurück, um männliche und weibliche Individuen zur Befruchtung zusammenzubringen. Insekten leisten diesen Hilfsdienst (durch Pollentransport) bei einer enormen Zahl von Pflanzen, besonders bei jenen Arten, die für unsere Wirtschaft und unser Leben eine Rolle spielen.
Rund ein Drittel aller Nahrungsmittel in der westlichen Welt geht direkt auf die Bestäubung durch Insekten zurück. Zu den auf bestäubende Insekten angewiesenen Pflanzen zählen Obstpflanzen wie Äpfel, Kirschen, Zitrusfrüchte, Feigen, Birnen und Pflaumen, Mandeln, niederwüchsige Früchte wie Brombeeren, Preiselbeeren, Melonen, Himbeeren und Erdbeeren sowie Gemüse wie Spargel, Bohnen, Kohl, Mohrrüben, Gurken, Auberginen, Salat, Paprika, Kürbis und Tomaten. Auch Zwiebeln, Knoblauch und Chilischoten werden von Insekten bestäubt. Kein Zweifel: Das Essen der Zukunft wäre ohne Insektenbestäuber entschieden fader. Auf der Getränkekarte würden Kaffee und Tee fehlen, und selbst Desserts wären ohne Insekten langweilig: Theobroma cacao, der Kakaobaum, ist zur Bestäubung vollkommen auf winzige Mücken, sogenannte Gnitzen, angewiesen.
Der Umstand, dass auch Futterpflanzen wie Luzerne und Klee von der Bestäubung durch Insekten abhängig sind, wirkt sich indirekt auf die menschliche Ernährung aus. Zwar essen die wenigsten Menschen selbst Luzerne und Klee, aber Rinder und Schafe tun es. Ohne bestäubende Insekten hätten wir viel weniger Milch, Käse, Rind-, Lamm- und Hammelfleisch. In einer insektenlosen Welt gäbe es bei McDonald's einen Big Mac ohne Fleisch, Salat, Käse, Gürkchen, Zwiebeln und Ketchup, kurz gesagt: einen McBrötchen. Selbst Fleischersatz aus Soja (Tofu-Hotdogs und Sojaburger) wäre kaum zu haben. Glycine max, die Sojabohne, ist zwar nicht zwingend auf Insektenbestäubung angewiesen, aber der Besuch von Bienen und anderen Bestäubern steigert Fruchtansatz und Widerstandskraft und verbessert die Ernte.
Nach der Nahrung ginge uns die Kleidung aus. Denn auch die wichtigsten Naturfasern gäbe es ohne das Wirken von Insekten nicht. Die Baumwollpflanze wird von Insekten bestäubt, und Wolle und Leder stammen hauptsächlich von Schafen und Rindern, die von Insekten bestäubte Leguminosen gefressen haben. Die Seide schliesslich ist eine Naturfaser, die unmittelbar von einem Insekt gebildet wird - von Bombyx mori, dem Maulbeerseidenspinner. Die Seidenfaser ist deutlich belastbarer als ein Stahlfaden von vergleichbaren Dimensionen, ausserdem ist sie elastisch und nimmt Farbstoffe hervorragend auf. In einer Welt ohne Insekten gäbe es also wahrscheinlich auch viel mehr Polyester, als wir es heute gewohnt sind.
Vielleicht denken Sie nun, dass die wenigen Nutzpflanzen, die nicht auf Insekten angewiesen sind - meist Gräser wie Weizen, Reis und Mais, ausserdem Kokosnüsse und Bananen - in einer insektenlosen Welt besser dran wären. Das könnte durchaus sein, brachten doch die Bauern in den USA allein im Jahre 1997 über 76 000 Tonnen Insektizide auf ihren Feldern aus. Aber dieselben Farmer versprühten noch mehr Herbizide (fast 260 000 Tonnen) auf ihren Äckern. Unkraut ist somit ein grösseres Problem als die Schädlinge unter den Insekten. Einige der hartnäckigsten Unkräuter werden sogar von Insekten in Schach gehalten. So wurden etwa 800 000 Hektaren erstklassiges Weideland im Nordwesten der USA von Johanniskraut erstickt, bis man zu seiner Bekämpfung zwei Blattkäferarten importierte. In Australien befreite man rund 24 Millionen Hektaren Weideland von eingeschleppten Feigenkakteen mit Hilfe einer kakteenfressenden Raupe und einiger ihrer Reisegenossen. Die in Nordamerika heimische Beifuss-Ambrosie (Ambrosia artemisifolia) wurde versehentlich nach Europa eingeschleppt - und damit auch ihr hochallergener Pollen, der vom Wind verteilt wird und in den USA häufigster Auslöser von Heuschnupfen ist. Heute geht man in einem biologischen Bekämpfungsprogramm mit nordamerikanischen Eulenraupen gegen sie vor. Eine insektenfreie Zukunft wäre höchstwahrscheinlich eine Zukunft mit noch mehr Heuschnupfen.
Die Menschen dürften Insekten, sollte es sie nicht mehr geben, auf dem eigenen Speisezettel kaum vermissen. In der westlichen Küche spielen sie praktisch keine Rolle, und auch wo man sie regelmässig verzehrt - wie in Afrika die Mopane-Würmer, Termiten und Wanderheuschrecken, in Mexico «Gusano de maguey»-Raupen und Feldheuschrecken, in Asien Riesenwasserwanzen und Seidenspinnerpuppen und in Südamerika Palmenbohrer- und Bockkäferlarven -, sind sie nur selten ein Hauptbestandteil der Nahrung.
Aber wir Menschen sind mit unserer Unabhängigkeit von Insekten die grosse Ausnahme unter den Wirbeltieren. Die meisten Vertebraten sind auf Insekten angewiesen. Bei Süsswasserfischen stellen diese 40 bis 90 Prozent der Nahrung; Forelle, Lachs, Flussbarsch, Blauwange, Sonnenfische und dergleichen benötigen zur Ernährung Steinfliegen, Köcherfliegen, Eintagsfliegen, Mücken- und sogar Moskitolarven (was die so oft gestellte Frage 2 zum Teil beantwortet). Amphibien wie Frösche, Kröten und Salamander brauchen Insekten; der Speiseplan der Erdkröte besteht zu 75 Prozent aus Insekten. Bei den Reptilien verspeisen Eidechsen, Chamäleons, Blindschleichen und Krötenechsen bevorzugt Insekten. Insekten und ihre Verwandten stellen einen Drittel der Nahrung von Federwild und Singvögeln. Zu den ausgesprochenen Insektenliebhabern gehören zum Beispiel Fliegenschnäpper, Mauersegler, Schwalben, Spechte, Kleiber, Baumläufer, Waldschnepfen oder Meisen. Der Spechtfink von den Galapagosinseln benutzt einen Kaktusstachel, um damit in totem Holz nach Insekten zu stochern; manche Würger spiessen grosse Beuteinsekten auf Dornen.
Vögel vertilgen erstaunliche Mengen von Insekten, im Durchschnitt etwa 100 pro Tag. Aber viele Arten liegen weit über diesem Durchschnitt - so fand man einmal im Magen eines Kupferspechtes mehr als 5000 Ameisen. Und manche Jungvögel fressen täglich eine Insektenmenge, die ihrem eigenen Körpergewicht entspricht.
Lang ist auch die Liste der insektenfressenden Arten bei den Säugetieren: Ameisenigel, Schnabeltiere, Opossums, Kuskuse, Opossummäuse, Beuteldachse, Beutelmaulwürfe, Igel, Maulwürfe, Borstenigel, Schlitzrüssler, Spitzmäuse, Fledermäuse, Ameisenbären, Gürteltiere, Schuppentiere, Waschbären. Selbst bei unseren nächsten Verwandten, den Primaten, ist der Verzehr von Insekten die Norm; Lemuren, Aye-Ayes (Fingertiere), Loris, Marmosetten (Krallenäffchen) und einige Menschenaffen sind in unterschiedlichem Ausmass insektenfressend. Gorillas wie Schimpansen benutzen Stöcke als Werkzeug, um Termiten und Ameisen aus ihren Nestern zu fischen.
Natürlich fressen viele Säugetiere auch anderes als Insekten. Allesfresser könnten vom Aussterben der Insekten profitieren. Aber wir wissen nicht, welche Folgen eine so massive Umgestaltung der Nahrungsketten hätte.
Nehmen wir zum Beispiel die Ratte, ein Säugetier mit einem ausgesprochen vielfältigen Speiseplan. Die Ratten könnten sich noch stärker ausbreiten, wenn es keine Insekten mehr gäbe, die ihnen jene Krankheiten übertragen, die ihre Zahl einigermassen unter Kontrolle halten. Die Pest kostete zwar im 14. Jahrhundert rund einem Drittel der Weltbevölkerung das Leben, aber sie setzt auch den Ratten zu, die ebenfalls vom Rattenfloh, Xenopsylla cheopis, befallen werden, dem wichtigsten Überträger des Pestbakteriums. Noch heute ist die Pest in Nagetierpopulationen im Westen der USA weit verbreitet. Ohne das übertragende Insekt würde die Pest wahrscheinlich zurückgehen. Nagetiere sind auch anfällig für weitere von Insekten übertragene Krankheiten wie Tularämie, Chagas-Krankheit, Fleckfieber und Typhus. Ohne Insekten könnten Ratten und ihre Verwandten in unvorstellbaren Massen die Welt beherrschen.
Wem diese Aussicht noch nicht trübe genug ist, der betrachte einmal das Ende der Nahrungskette. Insekten sind die wichtigsten Wiederverwerter auf unserem Planeten; ohne sie würden sich immer grössere Dung- und Aasmengen ansammeln. Allein in den USA leisten dungfressende Käfer alljährlich Dienste im Gegenwert von zwei Milliarden Dollar. Nur wenige Organismen sind für diese Aufgabe gerüstet, die global gesehen einer Sisyphusarbeit gleicht - eine einzige Kuh kann pro Tag ein Dutzend Kuhfladen produzieren, das entspricht rund 4800 Kilogramm Dung pro Kuh und Jahr. Und Insekten verarbeiten nicht nur Dung. Sie verwerten auch Holz - in Australien zersetzen Termiten 25 Prozent des gesamten Totholzes -, sie durchackern den Erdboden und sorgen damit dafür, dass dieser belüftet wird. Charles Darwin nannte Regenwürmer die «Gedärme des Bodens», weil sie den Boden aufbereiten; nach Ansicht der Entomologen unterschätzte er allerdings die Rolle der Insekten. So wird die Erde in vielen afrikanischen Savannen, wo es eindeutig keine Regenwürmer gibt, ausschliesslich von Insekten aufbereitet. Ameisen, Bienen, Wespen, Fliegenlarven, Käfer, Grillen, Erdraupen, Zikaden und (wenn wir die Definition von Insekten ein wenig ausdehnen) Springschwänze sind Bodenbewohner, deren Kommen und Gehen den Boden gesund erhält. Engerlinge können mehr als 1,5 Meter tief graben, und Zikadennymphen dringen bis in Tiefen von drei Metern. Viele Insekten bringen beim Graben Partikel aus der Tiefe des Erdbodens an die Oberfläche und Material von der Oberfläche in die Tiefe (als würde man Gründünger unterpflügen), und mit ihren Exkrementen und ihrem toten Körper reichern sie den Boden mit Nährstoffen an.
Manche Wiederverwertungsarbeiten kann kein anderer Organismus so erledigen wie ein Insekt. Kadaver etwa widersetzen sich hartnäckig der Zersetzung. Schmeissfliegen zählen zu den wenigen Arten auf der Erde, die über das Enzym Kollagenase verfügen, mit dem sie Bindegewebe abbauen können. Kleidermotten sowie Pelz- und Speckkäfer können Keratinase bilden, ein weiteres Enzym, mit dem sie die Proteine von Haut, Haaren, Federn, Nägeln, Krallen und Pelz zersetzen.
Selbstverständlich würden die Insekten auch den Wissenschaftern fehlen, denen sie als Modellorganismen vielfach zu wissenschaftlichen Fortschritten verhalfen. Die Genetik verdankt ihre Existenz zum guten Teil Arbeiten mit der Taufliege Drosophila melanogaster, die von nicht weniger als vier Nobelpreisträgern zum Forschungsobjekt auserwählt wurde. Ihre geringe Grösse, preiswerte Ernährung und erstaunlich hohe Reproduktionsrate gestatteten effiziente genetische Experimente, die mit Laborratten oder Meerschweinchen viel mehr gekostet und viel länger gedauert hätten. Und gewiss würden einige empfindsame Seelen ein Leben ohne Grillenzirpen, das Blinken der Leuchtkäfer, den Flug der Schmetterlinge und andere ästhetische Freuden, die uns die Klasse der Insekten bereitet, als ärmer empfinden. Aber diese Dinge lassen sich kaum messen.
Wie also sähe eine Welt ohne Insekten aus? Würde sich der Mensch binnen eines Jahrzehnts fast ausschliesslich von Getreide ernähren müssen, das von Feldern mit viel Unkraut und kargem Boden geerntet wird? Würden wir uns in Polyester-Jogginganzügen wund scheuern, während wir unsere mageren Äcker gegen die wachsenden Rattenpopulationen verteidigen? Würden die Menschen mit von Heuschnupfen tropfenden Nasen, von Skorbut blutendem Zahnfleisch und von anderen Mangelkrankheiten gebeugtem Körper behutsam zwischen den überall herumliegenden toten Körpern nach irgendwelchen verbliebenen Insekten suchen, in der Hoffnung, sie wieder an ihren angestammten Platz in der Nahrungskette zu setzen? Wahrscheinlich nicht - Menschen sind bemerkenswert einfallsreich und haben sich schon immer zu helfen gewusst.
In Pellegrinos Roman «Dust» gewinnen Wissenschafter DNA aus in Bernstein fossilisierten Insekten und klonen neue Insekten, um die durch programmiertes Aussterben ausgelöschten zu ersetzen. Die Rekonstruktion eines intakten Organismus aus alter DNA ist jedoch derzeit nur im Science-fiction-Roman möglich. Und glücklicherweise gibt es bessere Wege, um die Katastrophe abzuwenden, Ansätze, die mehr mit unserer Einstellung und vorbeugenden Massnahmen zu tun haben als mit Molekularbiologie. Um sicherzustellen, dass unser Planet in einer Weise funktioniert, die für unsere Gesundheit und unser Glück zuträglich ist, müssen wir einfach lernen, die übrigen Bewohner der Erde zu respektieren - auch die kleinen sechsbeinigen. Wir müssen nur akzeptieren, dass sie uns dabei helfen, unseren Planeten zu bewahren. Sonst wird es auf die Frage «Wozu sind Menschen überhaupt gut?» keine besonders nette Antwort geben, jedenfalls nicht von den anderen Bewohnern dieser Erde.
Quelle: Von May Berenbaum, NZZ Folio 07/01 - Thema: Käfer und Co
http://www.nzzfolio.ch/www/d80bd71b-b264-4db4-afd0-277884b93470/showart…
Die Entomologin May Berenbaum lehrt und forscht an der University of Illinois in Urbana-Champaign. Ihre Bücher «Blutsauger, Staatsgründer, Seidenfabrikanten» (Spektrum Akademischer Verlag 1997) und «Buzzwords. A Scientist muses on sex, bugs and rock’n’roll» (Joseph Henry Press 2001) gelten als das Beste und Lustigste, was Laien über Insekten lesen können.
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