Viele Vogelarten, die in der Schweiz vor sechzig Jahren heimisch gewesen sind, sind heute verschwunden. Dies dokumentiert ein neuer historischer Brutvogelatlas der Schweizerischen Vogelwarte Sempach. Die Entwicklung sei alarmierend, sagte Peter Knaus, einer der Mitautoren. Im Mittelland starben etwa Steinkauz Athene noctua und Wachtelkönig Crex crex aus, in der Ostschweiz Wendehals Jynx Torquilla und Bekassine Gallinago gallinago, in der Nordwestschweiz Wiedehopf Upupa epops und Rotkopfwürger Lanius senator, in der Romandie Rebhuhn Perdix perdix und Raubwürger Lanius excubitor. Im Tessin kommen der Ziegenmelker Caprimulgus europaeus und die Heidelerche Lullula arborea unter Druck.
Aus alten Archivdaten und Befragungen von Zeitzeugen konnte die Vogelwarte Sempach die Situation der Schweizer Vogelwelt um 1950 rekonstruieren. Die Resultate präsentiert sie nun in einem Historischen Brutvogelatlas. Das Werk dokumentiert die teils dramatischen Veränderungen in der Vogelwelt in den letzten sechs Jahrzehnten. Insbesondere Vogelarten der Feuchtgebiete und des Kulturlands waren um 1950 noch weit verbreitet. Sie erlitten bis heute die grössten Einbussen.
Zahlreiche heute seltene Arten der Feuchtgebiete und des Kulturlands waren in den Fünfzigerjahren noch weit verbreitet und häufig. Schon in den Siebzigerjahren waren deutliche Rückgänge festzustellen, die sich bis in die Neunzigerjahre intensivierten und bis heute fortsetzen. Wenige Vogelarten profitierten vom zunehmenden Schutz und sind heute weiter verbreitet als in den Fünfzigerjahren. Insgesamt zeigt der Historische Brutvogelatlas, wie vielfältig die Schweizer Vogelwelt einst war. Dieser Reichtum kann nur wiedergewonnen werden, wenn der Schutz und die Förderung der Vögel in der Schweiz deutlich verstärkt werden.
Beispielhaft ist der Rückgang der Insektenvielfalt, der Nahrungsgrundlage vieler Vögel: „Wer abends mit dem Auto unterwegs war, musste regelmässig an einem Dorfbrunnen die Windschutzscheiben reinigen, weil sie von toten Insekten verklebt und fast undurchsichtig waren“, erinnert sich Paul Abt-Hauenstein, ein freiwilliger Mitarbeiter der Vogelwarte. „Heute finde ich meist nur wenige tote Mücken. Da muss man sich nicht wundern, dass Vögel, die Insekten fressen, auch verschwunden sind.“
Der Wendehals war in den Fünfzigerjahren in den ausgedehnten Obstgärten ein Charaktervogel. Viele Feuchtgebiete der Ostschweiz waren noch von der Bekassine besiedelt, obwohl sie infolge früherer Entwässerungen bereits stark zurückgegangen war. Bis in die Neunzigerjahre verschwanden beide Arten fast vollständig.
Der Steinkauz bewohnte in den Fünfzigerjahren viele Hochstamm-Obstgärten und alte Baumbestände. Der Wachtelkönig war ebenfalls noch ziemlich verbreitet. Beide Kulturlandarten verloren mit der zunehmenden Mechanisierung und Intensivierung der Landwirtschaft ihren Lebensraum.
Die typischen Revierrufe „kirr-ek“ des Rebhuhns waren in den Fünfzigerjahren noch mancherorts im Kulturland zu hören. Auch der Raubwürger brütete hier verbreitet. Zu den Gründen für ihren Niedergang zählen der Verlust reich gegliederter Kulturlandschaften und der flächige Einsatz von Pflanzenschutzmitteln.
Früher kamen Ziegenmelker und Heidelerche noch an mehreren Stellen im Tessin vor. Durch die Aufgabe der landwirtschaftlichen Nutzung wuchsen in vielen Gebieten wieder Büsche und Bäume auf, wodurch beide Arten zusehends verdrängt wurden.
Quellen:
Knaus, P., R. Graf, J. Guélat, V. Keller, H. Schmid & N. Zbinden (2011): Historischer Brutvogelatlas. Die Verbreitung der Schweizer Brutvögel seit 1950. Schweizerische Vogelwarte, Sempach. 336 S
Schweizerische Vogelwarte Sempach, 28. Juni 2011
http://www.vogelwarte.ch/verflogener-reichtum.html
NZZ, 1. Juli 2011:
http://www.nzz.ch/nachrichten/panorama/aderlass_in_der_vogelwelt_1.1114…
SF Schweizer Fernsehen, 2. Juli 2011:
http://www.tagesschau.sf.tv/Nachrichten/Archiv/2011/07/01/Vermischtes/S…
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